09.11.09

Erinnerung

Als die Mauer fiel, hütete ich Schafe im Süden der Schweiz, im Tessin. Es war November, der Nordwind blies eiskalt über die Alpen und brachte schlechtes Wetter. Ich hütete gerade in den Kastanienwäldern um die Dörfer herum. Schafe sind ganz wild auf Maronen. Sie fressen gierig und so viele, bis sie fast platzen. Sie stampfen mit den Klauen auf die stacheligen Hüllen ein, bis die kostbaren Waldmurmeln heraus kullern.



Die Herde klebte den ganzen Nachmittag im Wald an Ort und Stelle fest, bis keine einzige Marone mehr auf dem Waldboden lag. Ich konnte inzwischen in aller Ruhe Steinpilze sammeln und ein paar Äpfel im Garten eines Ferienhauses stehlen. Als es dunkel wurde zogen wir zum Fluss runter zum Nachtlager. Ich lief vor der Herde her und lockte sie, wie ich es von den norditalienischen Bergamaskerhirten gelernt hatte: Rrrrrr, Rrrrrrrsch. Der Wind wurde stärker und die Blätter vom Boden wirbelten durch die Luft. Auf einmal flog ein Fetzen Zeitung in mein Gesicht. Ich schaute auf das Papier und sah ein Foto. Menschen standen auf einer Mauer. Es war die Berliner Mauer. Ich traute meinen Augen nicht und steckte das Zeitungsblatt für später ein. Abends kramte ich das Bild wieder aus der Jackentasche, beleuchtete es mit der Taschenlampe und schaute noch einmal genau. Tatsächlich: Da standen Menschen auf der Mauer und sie jubelten. Ich sah auf das Datum. Die Zeitung war eine Woche alt. Warum hatte mir das niemand erzählt? Immer, wenn ich Menschen traf, fragte ich sie nach Neuigkeiten aus der Welt. Sie wollten zwar über die Schafe reden, aber ich nicht.
- Wie viele Schafe sind das, fragten sie immer.
- 800
- Oh so viele!
- Ja. Und wer bist du? Was machst du so im Leben? Was passiert auf der Welt?

Ich band die Hunde an den Wohnwagen und lief ins Dorf. Habt ihr gesehen, fragte ich die Leute in der Dorfkneipe, in der Zeitung ist ein Bild, da stehen Menschen auf der Berliner Mauer! Die Mauer ist gefallen! Leute! Ist das nicht ein Wunder? Eh, sagten sie, was kümmert uns das, komm, trink einen Grappa und beruhige dich.

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