30.11.09

Liebesblick

Zwanzig Jahre habe ich gewartet um Ghedalia Tazartes live sehen zu können.

Ich stand im Foyer zwischen zwei Konzerten, als eine ältere Dame sich zu mir gesellte. Sie trug nur Schwarz, Weiss und Knallrot, sehr adrett. Sie sah inmitten all dieser Experimentalmusikliebhaber eigenartig gutbürgerlich aus. Ich fragte sie, für welches Konzert sie gekommen sei. Ihr Mann habe sie mitgeschleppt, antwortete sie, er höre nur solche schräge Musik. Ich suchte in der Menge einen Mann, der den Ihren hätte sein können. Sie merkte es, und deutete auf einen ziemlich jüngeren Mann, der genau so skurril aussah, wie die Musik, die er gerne hörte. Seine Haltung war etwas schief, die Strickjacke sah aus wie falsch zugeknöpft. Auch sein Hut sass schief. (Ich muss bei Menschen mit Hüten immer an diese Geschichte denken, die mein frommer Grossvater mir einst vorlas, in der Kinder 'behütet' waren, und ich mir stattdessen Kinder mit Hüten vorstellte.) Er stand inmitten der Wartenden ohne sich mit etwas beschäftigen zu müssen, ohne Drink, Gesprächspartner oder Hosentaschen für die Hände. Seine Frau betrachtete ihn liebevoll und ich spürte, dass sie sich spätestens nach dem zweiten Campari Orange zusammenreissen musste, dass sie ihn nicht für einen Helden hielt, wenn sie vom anderen Ende des Foyers zuschaute, wie seine Augen unter dem Hut hervorleuchteten und die ganze vor sich hin brabbelnde Menge zwischen ihnen in ein erträgliches Licht stellten.
Sie erzählte mir, wie er ihr zu Beginn ihrer Bekanntschaft diese Musik vorspielte, und sie skeptisch wurde, einen Moment lang abwog, ob sie ihn wirklich lieben könnte, mit all seinen Absonderlichkeiten. Aber sie mochte all das an ihm und verliebte sich.
Seit fünfzehn Jahren sind sie ein Paar.

27.11.09

Heute: Yo La Tengo.
Morgen: Cobra Killer, Little Annie, Ghédalia Tazartes
und keine Zeit zum Schreiben.

23.11.09

Arztroman 5

Nic hat eine neue Idee.
Neulich waren wir zusammen etwas trinken. Sie ist die einzige Frau, die ich kenne, dich sich gerne an die Bar setzt.
"Warum" sagte sie, während sie mir das Bier reichte, "schreibst du nicht dem anderen Arzt, dem Honigmundmann, die ganze Geschichte, wie du sein Foto im Internet fandest, und dass du dich auf Anhieb in ihn verliebt hast. So könntest du ihn kennen lernen."
"Ein Mann wie der ist garantiert verheiratet," sagte ich.
"Dann wird es ihm schmeicheln und du hast dein Glück versucht," zwinkerte sie mir zu.
Nic ist manchmal erfrischend unkompliziert in diesen Dingen. Und sie hat scheinbar eine Schwäche für Verkuppelungen entwickelt. Nach zwei Stunden und zwei weiteren Bieren fragte sie mich:
- "Welcher Mann gefällt dir hier am besten?"
- "Keiner."
- "Und der da?"
- "Hmnja."
Sie ging auf ihn zu und wechselte ein paar Worte mit ihm. Kurz darauf stellte sie ihn mir vor. Aber mir fielen nur komische Fragen ein und der Hmnjamann verzog sich wieder.
Nic gab, wie immer, nicht so schnell auf:
- "Mit welchem Mann könntest du dir vorstellen Sex zu haben?"
Ich schaute mich noch einmal um.
- "Mit der Dunkelhaarigen da drüben zusammen mit dem mit der Brille dort," sagte ich.
- "Die Dunkelhaarige kann ich ja verstehen, aber warum der mit der Brille?"
- "Er erinnert mich an einen Mann, den ich begehrte, aber mit dem ich nie Sex hatte."
- "Verstehe. Und die Dunkelhaarige wäre gewissermassen ein Trost Supplement?"
- "Nur eine gute Kombination."
- "Das wird zu kompliziert," winkte sie ab.
Später spendierte sie heimlich einem wildfremden Mann einen Zwetschgenschnaps von mir. Ich merkte es erst, als der Barmann auf mich deutete, und der Wildfremdemann verwundert schaute. Dann lächelte der Wildfremdemann, prostete mir mit dem Zwetschgengeist zu und so nahm der Abend an der Bar seinen Lauf, mit komischen Fragen und Nics Augen, die sich verdrehten.
Schliesslich kehrten wir heim in unsere Betten. Ganz ohne Kombinationen und Supplements.

22.11.09

Ich war jung und brauchte das Geld 2

Habe die hälfte meiner Kurzgeschichte fertig. Und nur noch eine Woche Zeit. Ich werde vermutlich nicht fertig. Dabei habe ich schon begonnen das Geld auszugeben, das ich gar nicht mehr gewinnen werde.
Wenn es nach mir ginge, würde ich am liebsten den ganzen Tag nichts anderes tun, als Kurzgeschichten schreiben, über Menschen, die Ingo heissen oder meinetwegen Bernd, und sich verlieben, eine Weile sehr glücklich sind und dann verlassen werden. Und immer Sehnsucht haben. Dann tun sie verrückte Dinge, um ihre Sehnsucht zu stillen und es wird richtig spannend. Irgendwo würde eine Stelle mit heissem Sex vorkommen, die man immer wieder aufschlagen und nachlesen würde, weil sie so gelungen ist.

21.11.09

Terminschwäche

Es war früh morgens. Ich war spät dran und rannte auf den Zug. Ich rannte und rannte und erwischte ihn in allerletzter Sekunde. Setzte mich ausser Atem in den Speisewagen. Mir war schwindlig. Ich hatte nicht genug geschlafen und noch nichts im Magen. Ich bestellte ein Wellness-Frühstück. Wellness bedeutet zusätzlich ein Glas Orangensaft und ein Müesli. Der Kondukteur kam und ich hatte kein Billett. Es kostete mich zehn Franken Zuschlag. Mir war noch immer heiss und meine Bluse war nassgeschwitzt. Auf der Toilette zog ich sie aus und ein Strickjäckchen an. Ich betrachtete mein vibrierendes Spiegelbild. Man konnte den BH durch den hellen Strick sehen. Ich sah aus wie eine Emmentaler Serviertochter. Lächelte mich an. Es half nicht. Schminkte schliesslich die Wimpern mit brauner Tusche. Setzte mich zurück an mein Wellnessfrühstück. Bestellte einen weiteren Tee. War noch so müde. Als ich ausstieg, sah ich auf die Uhr.
Ich war eine Stunde zu früh.

20.11.09

Es herrscht



Schild am Gewerkschaftsgebäude

18.11.09

Jeux d' esprit

17.11.09

Holundersaft und Heidelbeereis

16.11.09

Arztroman 4

Ich war gestern nicht am Konzert.
Stattdessen bin ich krank geworden. Nic kam vorbei, ich hatte ihr das Ticket vor die Wohnungstür gelegt, damit ich sie nicht anstecke. Sie hinterliess ihrerseits Obst, Sanddornsaft, Kürbissuppe und einen Umschlag auf der Türschwelle. Im Umschlag war ein USB Stick. Darauf war ein kleiner Videofilm.
Das Filmchen ist ein Interview mit dem Arzt, den Nick mit mir verkuppeln will, in seiner Neuköllner Wohnung. Er hat in Berlin, Frankfurt und Zürich eine Wohnung. Nics Freundin, die ursprünglich aus Berlin kommt, hatte vor einiger Zeit spontan das Interview mit ihm gefilmt. Man sieht eine schöne Wohnung, Parkettböden, viele Bücher, viele CDs, eine Tuschzeichnung an der Wand, Dinge, die auf einen kultivierten Mann deuten. Süssigkeiten, Pralinen und Prosecco auf dem Sofatisch lassen einen Mann vermuten, der gerne verwöhnt. Er steht diesmal zum Glück ohne Schnauzbart aber immer noch wie zurechtgestutzt im Wohnzimmer und bügelt gerade ein Hemd (echt jetzt). Er ist ein bisschen nervös, weil er gefilmt wird. Nics Freundin fragt ihn unter anderem über seinen Frauengeschmack aus, was er gut findet und was ihn ärgert an Frauen, und was denn so seine eigenen Vorzüge sind. Ein sehr amüsantes Video. Wenn man ihn so reden sieht, wirkt er ganz sympathisch. Was er sagt ist interessant. Das Video rührt mich irgendwie. Wenn ich krank bin, werde ich immer rührselig und anhänglich. Ich finde auch rührend, dass Nic sich so ins Zeug legt für mich und dafür sorgt, dass ich nicht verhungere und Unterhaltung habe und endlich einsehe, dass der Mann zu mir passt.

15.11.09

14.11.09

Winterruhe

Heute mache ich den Garten zu.

12.11.09

Wie schwer an der Behauptung festzuhalten, dass man etwas sieht

Ich habe die zivilisierte Kaputtheit der Leute erblickt.
Wie tausende von fallenden Blättern.

Mit guter Laune den Untergang abwenden

Ich kaufte den Regenschirm, weil er sich per Knopfdruck von alleine öffnet. Die Wucht und der Überraschungseffekt waren so gross, dass er mir dabei aus der Hand flog und einen spektakulären Bogen in der Luft zurücklegte. Das überzeugte mich. Ich habe noch nie einen Regenschirm besessen. Regenschirme gehören in die Kategorie Rollkoffer, Kühlschrankmagnete und Duschhauben. Dinge, die sich wie Trojanische Pferde ins Leben einschmuggeln und den Untergang des Lebensstils herbeiführen.
Ich habe viel Spass mit meinem neuen Schirm. Ich erschrecke noch immer jedes Mal, wenn er aufspringt. Das hält mich bei Laune.

10.11.09

Abwechslung im Arztroman

Der Mann neben mir im Adrianos redet wie ein Besessener auf mich ein. Viel zu laut, ich kann gar nicht zuhören. Er trägt eine teure schwarze Hose und ein feines, anthrazitfarbenes Hemd. Einen aparten Ring. Imponierend. Er referiert noch immer. Vermutlich ist er in der Werbung tätig. Kreiert Bedürfnisse. Liefert Lösungen. Im Moment produziert er vor allem Lärm. Sein Badge klemmt noch am Hosenbund. Inselspital. Ein Arzt. Ich trinke rasch aus, zahle und gehe.

09.11.09

Erinnerung

Als die Mauer fiel, hütete ich Schafe im Süden der Schweiz, im Tessin. Es war November, der Nordwind blies eiskalt über die Alpen und brachte schlechtes Wetter. Ich hütete gerade in den Kastanienwäldern um die Dörfer herum. Schafe sind ganz wild auf Maronen. Sie fressen gierig und so viele, bis sie fast platzen. Sie stampfen mit den Klauen auf die stacheligen Hüllen ein, bis die kostbaren Waldmurmeln heraus kullern.



Die Herde klebte den ganzen Nachmittag im Wald an Ort und Stelle fest, bis keine einzige Marone mehr auf dem Waldboden lag. Ich konnte inzwischen in aller Ruhe Steinpilze sammeln und ein paar Äpfel im Garten eines Ferienhauses stehlen. Als es dunkel wurde zogen wir zum Fluss runter zum Nachtlager. Ich lief vor der Herde her und lockte sie, wie ich es von den norditalienischen Bergamaskerhirten gelernt hatte: Rrrrrr, Rrrrrrrsch. Der Wind wurde stärker und die Blätter vom Boden wirbelten durch die Luft. Auf einmal flog ein Fetzen Zeitung in mein Gesicht. Ich schaute auf das Papier und sah ein Foto. Menschen standen auf einer Mauer. Es war die Berliner Mauer. Ich traute meinen Augen nicht und steckte das Zeitungsblatt für später ein. Abends kramte ich das Bild wieder aus der Jackentasche, beleuchtete es mit der Taschenlampe und schaute noch einmal genau. Tatsächlich: Da standen Menschen auf der Mauer und sie jubelten. Ich sah auf das Datum. Die Zeitung war eine Woche alt. Warum hatte mir das niemand erzählt? Immer, wenn ich Menschen traf, fragte ich sie nach Neuigkeiten aus der Welt. Sie wollten zwar über die Schafe reden, aber ich nicht.
- Wie viele Schafe sind das, fragten sie immer.
- 800
- Oh so viele!
- Ja. Und wer bist du? Was machst du so im Leben? Was passiert auf der Welt?

Ich band die Hunde an den Wohnwagen und lief ins Dorf. Habt ihr gesehen, fragte ich die Leute in der Dorfkneipe, in der Zeitung ist ein Bild, da stehen Menschen auf der Berliner Mauer! Die Mauer ist gefallen! Leute! Ist das nicht ein Wunder? Eh, sagten sie, was kümmert uns das, komm, trink einen Grappa und beruhige dich.

06.11.09

Nicht ganz unten

Wenn einem an einem gewöhnlichen, regnerischen Vormittag unerwartet viele Leute nachschauen, dann liegt das nicht unbedingt an den neuen Schuhen oder dem raffinierten Kleid, wie man beschwingten Herzens vermutet.
Die Frau, die mich darauf hinwies, dass das Kleid hinten nicht ganz unten ist, soll in den Himmel kommen. Und bis dahin mit Glück und Gesundheit und vielen Kindern, Schmuck und Blumen, Männern, Sex, Mix-CDs und Diamanten beschenkt werden.
Nicht ganz unten, soviel müssen Sie wissen, ist Ausdruck höflich schweizerischer Zurückhaltung und Verniedlichungsmanie. Es bedeutet nämlich komplett oben.
Alle anderen Frauen, die es sahen und nichts sagten, sollen Autopannen und hysterische Anfälle und Sonnenbrände kriegen.

05.11.09

Arztroman 3

Natürlich schaue ich dann doch. Das war jetzt allen klar. Natürlich bin ich neugierig.

Es gibt genau zwei Doktoren mit diesem Namen. Bei Facebook finde ich die Bilder. Der eine ist ein schöner Mann ganz nach meinem Geschmack. Es ist ein fülliger, entspannt zurücklehnender Mittvierziger mit schwarzem Hemd, Fünftagebart, glänzenden, genussfreudigen Augen und einem klugen Mund. Wenn er spricht, so stelle ich mir vor, dann mit Worten, die man immerzu wie Honig von den Lippen lecken möchte.
Der andere trägt einen blonden, perfekt gestutzten Schnauzbart. Seine Züge sind klar und wohlgeordnet. Sein Mund ist ein dünner Strich, der sich verlegen kräuselt. Ich frage mich, ob in diesem Gesicht jemals eine unkontrollierte Regung zu sehen ist. Natürlich frage ich mich auch, was man tun müsste, um diesem Mann unbeherrschte Laute zu entlocken. Er sieht nett aus. Aber insgesamt unglücklich und etwas geniert.

Ich habe Pech. Es ist der andere.

04.11.09

Arztroman 2

Nic gibt nicht auf: "Im Internet gibt es ein Foto von deinem Traumarzt, du kannst einfach seinen Namen googeln."
Ich google nicht.

02.11.09

Arztroman

Meine lesbische Freundin Nic kennt einen Arzt, mit dem sie mich verkuppeln will.
"Es ist genau so wie bei dir", sagt sie, "unbegreiflich, warum er noch immer alleine ist."
Sie denkt, dass wir gut zusammen passen. Er sei wirklich ein toller Mann, der was im Kopf hat.
"Er ist ein richtiger Mann", fügt sie etwas unbeholfen hinzu, weil sie meinen Geschmack treffen will.
"Du meinst also ein grosser, gelassener, geniesserischer, stattlicher, ekstatischer Mann?", frage ich nach, um sicher zu gehen, was ein Richtiger ist.
"Ich weiss nicht, was für einen Schwanz er hat", antwortet sie meine Befürchtungen ahnend, "aber es ist auch spannend sich mit ihm zu unterhalten."
Nic mag mich. Sie möchte, dass ich glücklich bin. Sie weiss, dass ich ohne Mann nicht glücklich sein kann. Und sie kann nicht glücklich sein, wenn ich es nicht bin. Sie denkt an mich, wenn sie einen tollen Mann trifft. Das ist Freundschaft.
Aber ich traue ihrem Männergefühl nicht.
Lesben (Nic mag das Wort Lesben nicht. Sie nennt sich selber eine Lese. Ich bin eine Hete, was, wenn sie es ausspricht, auch nicht besonders schmeichelnd klingt), also Lesen finden manchmal heterosexuelle Männer toll, die hauptsächlich beste Kumpel sind. Beste Kumpel sind unterdrückt übersexualisiert oder gehemmt. Es sind Männer, die viele beste Freundinnen haben, sich regelmässig mit ihnen zum Teetrinken verabreden, natürlich bei sich zu Hause, und während sie sorgfältig ihre Hemden bügeln, von ihren Reisen in die Sumpfgebiete Südirans berichten, über die Konflikte der Touareg Nomaden in Algerien oder first und second flushs indischer Teesorten reden. Männer, die nie ficken sagen und hohe Plateauschuhe unbegreiflich und hässlich finden. Ich mag solche Männer auch. Das meine ich nicht. Mein Mitbewohner war ein bester Kumpel. Aber ich fand ihn nicht sexy.

01.11.09