31.01.12

Heute

Im Marzilibähnli treffe ich Glenn. Wir ziehen gleichzeitig die Stöpsel aus den Ohren und lächeln uns an. Er sagt, dass ich ein hübsches Kleid trage. Er ist schwul und achtet auf so was. Ich frage, wie es ihm geht. Er hat neun Monate lang bei mir Deutsch gelernt. Wir unterhalten uns über das Leben in Bern, die Liebe und die Kunst. Der Tag beginnt fabelhaft.

Im Tram sehe ich einem Mann zu, der seine Haare zu einem Pferdeschwanz bindet. Wie er ein dutzend Mal über den Kopf streicht und dabei abwechselnd mit der rechten und linken Hand die Haare zu einem Schwanz bündelt. Stelle mir vor, wie es aussehen würde, wenn er wichst. Frage mich, ob das nun abartig ist. Ist es nicht. Er hat damit angefangen.

Im Unterricht schreiben wir einen Lebenslauf. Lebensläufe mit Leben aus Lücken. Leben aus Militärdienst, Krieg und Lücken. Leben aus Flucht und Lücken. Leben aus sechs Grundschuljahren und Lücken. Leben aus fünf Grundschuljahren und zehn Jahren Familienfrau. Scheidung. Flucht. Kinder in Syrien. Wir schreiben einwandfreie, lückenlose Lebensläufe.

Oskar. 36 Jahre alt. Kolumbianer. Schulen und Konservatorium. Saxofonspieler. Hat 14 Jahre als Musiker da und dort gearbeitet. Verliebt sich in eine Schweizerin, heiratet und zieht in die Schweiz. Leben aus Musik und Liebe und Lücken.

Nsur, 25 Jahre alt, Eritreer, hat nach der Grundschule drei Jahre Militärdienst geleistet. Mit 18 Flucht in den Sudan. Dort als Gipser und Sonstiges gearbeitet. Mit 22 Flucht nach Lybien. Dort als Fussballspieler gearbeitet. Mit 24 Flucht nach Italien. Auf seinem Aufenthaltsbewilligungsausweis ist ein Foto. Er sieht darauf aus wie 40. Du siehst alt aus auf dem Foto, sage ich. Das war nachdem ich mit dem Boot in Italien ankam, sagt er. Ich habe überlebt. Leben aus Überlebenslücken.

Sitzung am Mittag. Alle sind hungrig. Unterzuckerte Frauen reden zu schnell und zu hoch. Die geschmeidige Kollegin mit dem weichen Bauch. Der warme Busen unter dem Pullover. Mein Beinwippen.

Fünfzehn Minuten Wartezeit auf der Post. Die Digitalanzeige behauptet das. Ich vermute eine Stunde.  Gehe lieber Winterschuhe kaufen. Finde keine Schuhe. Kaufe stattdessen Lammschulter, Kartoffeln und Feldsalat ein. Und Champagner. Möchte einen Champagnerabend. Ein junger Mann an der Ecke fragt mich, ob ich Kleingeld habe. Einen Franken oder zwei. Er sieht aus wie ein Lehrer oder Sozialhelfer, nicht wie ein Bettler. Sage, dass ich gerade kein Kleingeld habe. Gehe weiter und frage mich, warum er Geld braucht. Ärgere mich, dass ich ihn nicht gefragt habe, warum er wie ein Sozialhelfer aussieht und Geld braucht. Also kehre ich um. Als ich wieder an der Ecke bin, ist er weg.

Normalerweise habe ich Kleingeld in der Tasche.  Ab und zu nehme ich abends das Kleingeld aus dem Portemonnaie und lege die Ein-, Zwei- und Fünffränkler in meine Spardose. Das restliche Kleingeld kommt in meine Jackentasche. Ein paar lustige Rappen in der Tasche sind immer gut. Für solche Fälle. Für die alte Puppenfrau zum Beispiel. Sie schiebt einen Kinderwagen voller Puppen vor sich her. Sie war mal ein Mann. Ich kannte sie noch als jungen Mann. Ist dreissig Jahre her. Sie kauert meistens in sich versunken am Bahnhof neben ihrem Puppenwagen mit einem Pappbecher vor sich. Ich gebe ihr immer das ganze Kleingeld.

Wieder auf der Post. Zwölf Minuten Wartezeit. Ziehe die Nummer 196. Ich warte. Nummer 145 Schalter K ist dran. Ich stehe und warte. Heute ist mein hübsches Kleid Tag und mein Champagner Abend, denke ich.