29.12.06

Perspektivieren Sie bitte!

Ich war in Neuchâtel. Ich wollte schon lange die Wege meine Kindheit noch einmal gehen, mit allen Erinnerungen und Bildern, die auf solchen nostalgischen Spaziergängen in die Vergangenheit entstehen. Als Erwachsener sieht man die Wege der Kindheit aus einer ganz anderen Perspektive. Die hohen Steinmauern auf denen ich todesmutig balancierte, weil der Boden eine Todeszone war, genau genommen ein Meer mit Ungeheuern, sind nur noch hüfthohe Mäuerchen am Rande eines harmlosen Weges.
Ich komme nicht dazu Erinnerungen nachzuhangen, weil meine Mutter mich begleitet und die ganze Zeit redet. Sie kam mit, weil sie mich schon lange einmal irgendwohin begleiten wollte, und ich nicht nein sagen konnte. – Ich habe, wie du, zehn Jahre in Neuchâtel gelebt. Es ist auch meine Stadt, sagt sie, und besteht darauf, zuerst das Schloss zu besichtigen. Sie erzählt mir andauernd, was sie sieht. Schau hier der Reformator Farel, schau da der Hafen, wo du beim Schwäne Füttern in den See gefallen und beinahe ertrunken bist. Dein Papa hat dich gerettet und dabei einen Schuh im See verloren. Und dort ist die Place Pury. - Wer war denn Monsieur Pury? – Irgendein reicher Sack, sagt sie.
Ich lerne die Perspektive meiner Mutter kennen:
„Ich zeige dir,“ sagt sie, „noch das neue Einkaufzentrum bei der Roten Kirche. Oben drauf haben sie sogar ein Fussballfeld gemacht.“
Ein Fussballfeld auf dem Dach für die Angestellten, vermute ich im Stillen. Doch dann tauchen von weitem die Scheinwerfer des Spielfeldes auf. In Gedanken sehe ich die Angestellten des Supermarktes, wie sie nach Feierabend im Scheinwerferlicht Fussball spielen. Coop gegen Migros. Irgendetwas stimmt da nicht.
Und dann stehen wir vor dem Einkaufszentrum, das, genau genommen ein Stadion ist. Und wie alle modernen Einrichtungen protzt auch das neue Stadion mit Multifunktionalität. Mit anderen Worten: Unten drin sind ein paar Geschäfte.
Ein Einkaufszentrum mit wunderbaren Toiletten und einem Fussballfeld auf dem Dach ist es aus der Perspektive meiner Mutter.

17.12.06

Tram’n’Bus

Meine Mitbewohnerin und ich haben den gleichen Arbeitsweg. Wir fahren mit dem Tram bis zum Bahnhof und unterhalten uns über beliebte Frauenmorgenthemen wie - die Liebe. Die Liebe ist unerschöpflich und die Fahrt lang, darum eignet sich das Thema vorzüglich zum Tram fahren. Am Bahnhof steigen wir in den Bus um und lassen die Liebe als Souvenir den Leuten im Tram zurück.
Wir rennen auf den Bus und drängeln uns nach hinten, auf die zwei Sitze über den Hinterrädern. Es sind unsere geheimen Massagesitze. Wir schmiegen uns in die Sitze und halten die Luft an, bis der Chauffeur startet. Dann schüttelt es uns einmal kräftig durch. So beginnt unsere Vibrationsfahrt. Wir lassen uns bis zur Arbeit durchvibrieren. Alles vibriert, der Blick aus dem Fenster, das Herz, die Gedanken. Die Stimme auch. Die Vibration gibt der Stimme ein verzweifelt dramatisches Timbre. Wir probieren unsere timbrierten Stimmen aus, und hören uns reden und sagen: Wa’a’a’a’as ha’a’ast du gesa’a’agt? Eine Unterhaltung ist aussichtslos: Bei jeder Bodenwelle werden wir in die Luft gespickt und die Worte purzeln durcheinander.

09.12.06

Mein Leben, mein Blog und die Musik dazu

Judah Bauer bei Youtube eingetippt und überraschend einen alten Freund angetroffen.
Wie für mich gezaubert.

Make It Rain

Sehen Sie?

01.12.06

Dekonstruieren Sie sich bitte! Teil 3

Der asiatische Dobermannhalter auf seiner morgendlichen Spazierrunde mit seinem dunkelblauen Trainingsanzug und den Hanteln in den Händen. Alles im Griff.

Dekonstruieren Sie sich bitte! Teil 2

Der alte Mann vor mir im Tram, der ein paar wenige dünne Haarsträhnen quer über die Glatze gelegt hat. Wie er jeden Morgen in den Spiegel schaut und die langen Haare von der linken Seite rüberkämmt. Birkenwasser darüberträufelt. Noch einmal glatt streicht. Die zurecht gelegte Gewissheit, dass noch Haare auf dem Kopf sind. Auch er hält einen Mythos aufrecht. Vielleicht sieht er jeden Morgen einen jungen Casanova im Spiegel. Ich mag ihn irgendwie. Möchte ihn so gerne sehen, wenn seine Haare einseitig runterhangen.
Es erinnert mich an den befreundeten Postangestellten, der seine blonden Haare hinten zusammenband, aber seinen grauen Wollpullover, seine Bügelfaltenhosen und das Beamtenjackett einfach übersah, als er den Pirat, für den er sich hielt, im Spiegel sah. Ich dachte zuerst, er wolle den Kreativen darstellen, mit seinem Haarschwänzchen, oder den Esoteriker. Aber nein. Pirat.
Mythen sind wie ein Lebens-Make up. Sie verhindern, dass man sich ungeschminkt betrachtet und den grauen Merinopullover sieht.

Advent

Im Quartiertreff einen Vormittag zum Kerzenziehen für fünfzehn Personen reserviert:
- Und keine Kinder? - Nein. – Wie... keine Kinder? - Nein keine Kinder. - Also ohne Kinder? - Ja.

Meine Mitbewohnerin schenkt mir einen Adventskalender mit Hundertwasser’schen Goldfensterchen und goldenen Sternchen. Nur noch Wörter mit –chen Endungen brauchen in der Adventszeit.