06.06.10

Regenerationen

Ferien und keinen Plan

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Ich fahre an den Doubs. Der Doubs ist ein Fluss an der französischen Grenze. Zeitweise fliesst er in einer tiefen, wilden Schlucht und man kann tagelang in dieser gottverlassenen Gegend den Fluss entlang wandern. 

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Als Gymnasiastin hatte ich einen Tag, der mir gehörte. Mein Tag. Es war der dritte Mai. Ich weiss nicht, warum es der dritte Mai war. Aber das ist nebensächlich. Hauptsächlich war es mein Geheimnis. An diesem Tag schwänzte ich die Schule und unternahm etwas für mich. Niemand wusste davon. Niemand wusste, was ich machte oder wo ich war. Ich fuhr meistens an den Doubs. Ich wanderte, picknickte und fuhr gut drei Stunden wieder mit dem Zug zurück nach Zürich. 

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Es regnet. Ich wandere trotzdem los. Nach ein paar Stunden sind die Schuhe nass, die Hose, die Regenjacke, alles ist nass. Ich stapfe weiter und meine Gedanken stapfen auch: Sie streiten mit der Chefin, schreiben ihr Briefe, schreiben immer wieder Kündigungen, diskutieren stapfend und bringen alles auf den Punkt. Dann bin ich erschöpft, durchnässt und treffe auf ein kleines Hotel.Meine Rettung.

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Bis zum Abendessen in einem Palmen-Strand-Motiv Bett regenerieren. Als hätte die Tochter des Hauses die Bettwäsche ausgesucht.

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Ein dicker Amerikaner bestellt etwas umständlich Fondue. Er spricht kein Französisch. Die Kellnerin muss zuerst in der Küche nachfragen, ob es auch Fondue für nur eine Person gibt. Gibt es.
Ich bestelle Forelle Blau, dazu wird Buttersauce und eine Kartoffel serviert. Weisswein.

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Der Weg am Fluss. Den Blick auf meine Schritte gerichtet. Die Gedanken bei mir.
Wer bin ich. Wer war ich.
Lauter Erinnerungen.
Gehen und erinnern. Hier und da anhalten und gucken.
Fliegenfischer stehen mit ihren schenkelhohen Gummistiefeln im Wasser. Ich könnte ihnen stundenlang zusehen. Pêche a la mouche.
Später ein Wanderfalke.
Weitergehen und nachdenken.

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Das kleine Hotel an der Grenzbrücke.

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Das Hotelbett zerwühlen. Den anspruchsvollen beanspruchten Körper bis zum Abendessen regenerieren.

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Zwei Forellen und eine Kartoffel. Bier. Danach Rotwein.

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Vom dritten Tag an bin ich endlich eingelaufen. Jetzt laufe ich. Zügig und leichtfüssig. Sicher.  Acht Stunden. Ich weiss nicht, wie es Ihnen in so Situationen geht, aber wenn ich den Alltagsstress hinter mir gelassen habe, über mich und das Leben nachgedacht habe und mich ausreichend erinnert habe, dann gibt es nur noch Wahrnehmen. Nur noch Lauschen. Nichts als Vogelgesang.
Wenn Zwitschern auf einmal einen weiten Raum bildet.  Architektur des Vogelgesangs.
Oder das Rauschen des Wassers. Wenn der Fluss zum Begleiter wird.
Nur noch riechen. Blüten, Düfte und würzige Luft. Den Schatten riechen. Die Kälte. Die Dunkelheit der Schlucht riechen.

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Stehen bleiben, besessen vom genau diesem feuchten, moosigen Geruch. 

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Alles ist mit Moos bedeckt, die Bäume sind in Moos gewickelt, in saftig, leuchtendes Grün getaucht, ein unheimlicher Wald, geisterhaft.

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Lege mich ins Moos. Es ist feucht. Weich. Duftend. Wenn jetzt der dicke Amerikaner vorbei käme würde ich ihn ohne Vorwarnung zu mir runter ins Moos ziehen.

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Ach ja, der dicke Amerikaner. Warum ausgerechnet der. Er sah etwas spiessig aus. Fantasien sind sonderbar. Sie ankern sich irgendetwas Reales und die Imagination führt es durch alle denkbaren Variationen. Eigentlich fast jede Person, die mir begegnet ist, wurde für früher oder später geankert. Und in der Phantasie kann auch etwas Unattraktives wie ein dicker Amerikaner auf einmal reizvoll sein. Wenn ich mir Sex mit dem biederen innerschweizer Paar vorstelle, das am anderen Tisch sass und Saftschinken bestellte... Nein, das führt jetzt zu weit.
Ich weiss nicht, wie es Ihnen dabei geht, aber wenn ich beim Wandern sozusagen das Wahrnehmungs-Level erreicht habe, und acht Stunden lang nur laufe, laufe und laufe, dann denke ich acht Stunden lang nur an Sex. Wenn der dicke Amerikaner wüsste, dass ich ihn an dem Tag vier Mal verführt habe. Meine Fantasie ankerte sich auf einmal die Situation im Hotel, wie ich ihn anspreche, kokett, was ich sage, was er sagt, Wort für Wort, seine Verlegenheit, er ist gar nicht Amerikaner, sondern Finne, so sexy, und wir tête à tête Fondue essen,  mit den Variationen: Wir gehen in sein Zimmer - er ist steinreich und hat die Deluxe Suite, mit Champagnerbad und Seidenbett - nächste Variation, wir gehen in mein Zimmer - das Licht bleibt aus, wegen der Palmenstrand Bettwäsche, es ist stockdunkel und er leckt mich bis ich drei Mal komme.  Später muss meine Fantasie sich unbedingt noch die zufällige Begegnung im moosigen Wald ausdenken, auch in zwei Vernaschungsvarianten.
Die Fantasien sind so schön, dass ich sie gleich noch ein paar Mal mit weiteren zufälligen Begegnungen halluziniere. 

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Das Hotel in der Moosschlucht. Ein rothaariger, junger Mann empfängt mich träge. Er kann nicht sagen, ob noch ein Zimmer frei ist. Ich sehe nirgends Gäste. Er ist irgendwie ratlos. Habe unwillkürlich das Gefühl, ihn beim Gameboyspielen gestört zu haben. Oder beim Masturbieren. Vielleicht ist das gar kein Hotel mehr, sondern eine Wohngemeinschaft. Würde mich nicht wundern, wenn er mir das frische Bettzeug gleich in die Hand drückt, ich soll mir oben selber ein Zimmer suchen.
Ich setze mich erstmal hin und warte. Er bringt mir ein Leffe.

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Das wohlverdiente Bier.

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Warte und lösche aus Versehen all meine Fotos.

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Später kommen die Eltern des Rothaarigen. Es ist also ein Familienhotel.
Bekomme ein schönes Zimmer. Gebe bis zum Abendessen meinen Körper dem Bett zur Regeneration hin.

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Ich wähle das Menu du Chef. Natürlich Forelle. Es ist die beste bisher. Vielleicht sogar die beste Forelle meines Lebens. Ich sage es ihm. Er ist geschmeichelt. Er lächelt. Es ist ein schöner Mann. Und er kann vorzüglich kochen. Ich lächle zurück.

3 Kommentare:

  1. So schoen geschrieben, fast alsob ich dabei gewesen waere

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  2. Das sehe ich auch so, Ronsieur!
    Und diese wunderbaren Fotos!
    Nicht wahr?

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  3. Ich kann mir ein kleines pubertäres Kichern in Richtung Ronsieur kaum verkneifen. Wär' man doch dabeigewesen! :)
    Danke, Frau Minka!

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