Ich besuche meine Mutter. Sie ist in das Alter gekommen, in dem ein elegantes Hosenkostüm wieder vorteilhaft aussieht. Sie pflegt sich sehr, seit mein Vater gestorben ist, weil er ihr auf dem Sterbebett gesagt hatte, sie solle nicht eingehen vor Kummer, sondern gut auf sich achten.
Als er gestorben war, brüllte sie tagelang so laut sie konnte, um sicher zu sein, dass sie noch lebte und nicht vor Kummer eingegangen war. Sie fetze den Lack von den Wänden, bis die Wundheit des Raumes ihrer eigenen entsprach. Dann verschloss sie sich den Gedanken an ihren Verlust, indem sie sich beschäftigt hielt. Sie ging die Sachen ihres Mannes durch, gab die Kleidungsstücke weg, die Bücher im Arbeitszimmer, das Klavier, auf dem er immer spielte, das Ehebett, auf dem sie nicht mehr schlafen konnte, sie sortierte, packte, warf weg und weinte. Sie war ständig in Bewegung und das gab ihr viel Kraft.
Jetzt wirkt sie erschöpft. Aber es gibt noch immer so viel zu tun. Am Nachmittag kommen Gäste, die übernachten und frühstücken wollen, der Braten für den Abend muss mariniert werden, ein Pflaumenkuchen muss noch vor dem Mittagessen in den Backofen und die Bettenwäsche muss gebügelt werden, und währenddessen soll der Brotteig für das Frühstück aufgehen. Sie wuchtet einen Wassertopf auf den Herd für die Spätzle und legt mir das Kuchenrezept auf den Tisch. "Mach du das bitte", sagt sie. Einen französischen Pflaumenkuchen, mit Mandeln und einer Johannisbeergelee Glasur. Ich setze erstmal Teewasser auf, und während ich die Zutaten in der Küche zusammen suche, Mehl, Eier, Zucker, Mandeln und Butter vermenge, klopft sie schon ihren Spätzleteig. Als unsere Teige ruhen, begeben wir uns ins Wohnzimmer und trinken Tee.
Sie erzählt mir, wie das Alter sie dünnhäutig macht, dass sie nichts mehr erträgt, keine Einsamkeit, keine Kritik und schon gar keine falschen Höflichkeiten. "Ich fühle mich wie ein Ei ohne Schale", sagt sie. Sie schweigt und ich spüre, dass sie immer noch sehr trauert.
"Es gibt Leute, die sagen: Oh, ich geniesse das Alleinsein. Aber ich kann das nicht sagen. Ich komme damit klar, das schon, aber es ist kein Genuss", sagt sie.
Sie trinkt mit kleinen Schlucken die Tasse aus und erhebt sich.
"Ich fühle mich unsicher. Alles wird mir zu viel, das grosse Haus und all die Gegenstände, die mich ständig an ihn erinnern, meine grossen Ideen, was ich noch alles machen könnte, ohne recht zu wissen wie. Ich merke, wie ich mich verändere und meine Kraft nachlässt, und dass ich auf meine Freunde angewiesen bin, die mich unterstützen. Und jetzt sterben auch die, einer nach dem anderen".
Sie bindet ihre Küchenschürze um und schaut, ob das Spätzlewasser schon kocht.
"Man entwickelt im Alter nicht neue Wesenszüge", sagt sie und sucht ihr Küchenmesser. "Man wird so, wie man im Ansatz schon immer war: Empfindlich. Stolz. Eigensinnig. All die schlechten Wesenszüge entfalten sich im Alter".
Sie schärft das Messer blitzschnell und prüft vorsichtig das Ergebnis mit ihrer Daumenkuppe.
"Ach Kind", sagt sie, "ich habe Angst".
"Wovor?", frage ich.
"Vor mir selber", antwortet sie.
Und hier weint man über den Text und wegen der allgemeinen Wahrheit der Beschreibung.
AntwortenLöschenIch schliesse mich moseron an. Was für ein Text, mir fehlt das Adjektiv.
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