26.10.06

Angewand(tafel)te Kunst


Ich bin gerade am umziehen, und weil Umzüge sowieso immer nur dann passieren, wenn man keine Zeit hat, arbeite ich momentan auch noch das doppelte Pensum. Mein Portemonnaie hat ein Zweimonateloch. Der unbezahlte Sommer macht sich bemerkbar. Ich arbeite und bin müde, packe und bin müde, arbeite und packe und schlafe, und alles andere schiebe ich auf. Alles.
Heute hat mein Patensohn Geburtstag. Er wünscht sich einen Tag mit seiner Patentante, Torwarthandschuhe und ein Fahrradschloss. Aber ein solides, sagt er. Auch das muss ich aufschieben. Ich werde seine Wünsche am Samstag erfüllen. Morgen habe ich selber Geburtstag. Ich wünsche mir auch etwas Solides. Ein solider Mann wäre zum Beispiel nicht schlecht. Aber ich schiebe meinen Geburtstag auch auf. Das hätte mir gerade noch gefehlt, dass ich morgen auf einen Schlag älter werde.

23.10.06

Der Brunfthirsch

Der Hirsch schreit, röhrt, orgelt, trenzt und knört.
Hören Sie selbst.

(Wobei ich das Wort Brunft am seltsamsten finde. Es kommt mir so vor, als sei es mit vollem Mund gesprochen.)

22.10.06

Herbst ist so klasse!

Ich werde heute Hirsch kochen mit Spätzle (habe ich schon einmal erwähnt, dass meine Mutter Schwäbin war: Schätzle, sagte sie, du kommsch mir ersch aus’m Haus, wenn du Spätzle und Maultaschä machen kannsch.) (Ich sehe sie vor mir in der dampfenden Küche, wie sie am Herd steht und mit dem monstruösen Küchenmesser energisch und flink den Teig über den Holzbrettrand ins kochende Wasser schabt, zakzakzakzak, diese kraftvoll schnelle Bewegung, und wie sie jedes Mal beinahe die Hand verbrüht, wenn sie das Killermesser ins kochende Wasser tunkt damit der Teig besser rutscht. Und wie ein Wunder tauchen plötzlich aus den strudelnden Tiefen des Wassers feine Teigstreifen an die Oberfläche auf.)
(Überhaupt, die Kindheit: Manchmal haben wir Kinder Verstecken gespielt, wenn meine Mutter am Kochen war. Ich war etwa drei und mein Lieblingsversteck war unter dem Rock meiner Mutter. Sie trug fast immer bodenlange Röcke, die Hippie-Zeit eben, lange bunte Röcke und ein breites, buntes Haarband. Ich kroch unter ihren Rock und hielt mich an ihren Beinen fest. Es war das beste Versteck der Welt.
Meine Mutter schob mich unter ihrem Rock durch die Küche, sie konnte sich nur schleifend bewegen, aber das störte sie nicht. Meistens trug sie noch die Jüngste in einem Tuch auf dem Rücken oder auf dem Arm und kochte mit der freien Hand.
Sie sang die ganze Zeit. Sie kannte alle Liebeslieder und Operetten auswendig: Ja sehr komisch ha ha ha, ist die Sache ha ha ha. war meine Lieblingsoperette. Ich klammerte mich an ihre Beine und war selig. Ab und zu schob sie mir rasch etwas in den Mund, eine gefrorene Brombeere zum lutschen oder das Herzstück eines Kohls zum knabbern. Meine Schwestern kamen nie drauf, wo ich war.)
Ich werde also Hirsch kochen und Spätzle, dazu Rotkraut und karamellisierte Marronis und das ganze mit halben Birnen mit Preiselbeerkonfitüre und Trauben garnieren. hmm.

21.10.06

Briefe, in denen sich alles im Ungeschriebenen bewegt

... und wie ich jedesmal, wenn ich an den Brief denke, berührt und unbestimmt selig seufze, weil er mit 'Liebstes Fräulein Minka' beginnt.

16.10.06

Wie furchtbar, wie wunderbar scheu. Und zaghaft. Wir doch sind.

Eigentlich wären kleine Liebeleien die besten Geschichten um einen Herbst rund zu kriegen.
Ich würde vor Verzückung zu den Sternen fliegen.
Von dort oben würde sich mein Stolpern nach Glück vielleicht etwas übersichtlicher zeigen.


Titel via

14.10.06

Verwechslung

Langeweile kann auch mit Desinteresse verwechselt werden.
Aber es klingt viel aufregender, wenn sie sagt: „Hach, die Dinge langweilen mich immer so schnell.“ Dabei interessiert sie einfach nichts.

13.10.06

Dekonstruieren Sie sich bitte!

Es erinnert mich auch an all die Mythen, die wir konstruieren.
Und es gehört wohl zu den schwierigsten Aufgaben im Leben, diese Mythen zu dekonstruieren.

10.10.06

Warum ich trotzdem verstehe, dass Lesben gerne Hitlerjugendfrisuren tragen.

Es erinnert mich an kurze Hosen tragende Burschen, die scherzend zusammen Fahrrad fahren, mit einer wagemutigen Sorglosigkeit, wie sie in Zeiten grosser Repression in schwarz-weiss Filmen dargestellt wird...

Wahrscheinlich tragen sie diesen Haarschnitt, weil sie sich nie wie andere Jungs auf lange Fahrradtouren begeben konnten, auf denen man sich lachend neben der Strasse in die Weizenfelder fallen lassen kann, wobei man sich bei den spielerischen Raufereien zwischen den goldgelben Ähren wie zufällig durch den faltigen Stoff der Knickebockers an den Schwanz fasst.

09.10.06

Verzauberte Welt




Moosteppich im Bergtannenwald

03.10.06

Die Spinne weiss es schon lange, ich erst seit letztem Sonntag

Es hat den ganzen Tag geregnet. Ununterbrochen. Ich bin den ganzen Tag im Bett geblieben. Wie paralysiert. Zeitweise fühlte ich mich wie die langbeinige, fette Spinne, die seit Tagen dort oben an der Decke meines Schlafzimmers in einer Ecke bewegungslos lauert. Natürlich lauert sie nicht, das sagen wir Menschen einander um uns zu beruhigen. Es wäre einfach nicht auszuhalten, sich vorzustellen, dass so eine Spinne tagelang bewegungslos verharrt ohne irgendeinen Sinn. Da behauptet man doch lieber, sie warte auf etwas. Warten ist meine Lieblingsbeschäftigung im Moment. Ich warte darauf, dass mein Leben glücklich wird.

Mein glückliches Leben führe ich auf dem Land in einem grossen, hellen Haus mit einem krautigen Garten, einer grantigen Katze, einem verkaterten Hund, den Hühnern und einem liebeskranken Truthahn und einem Mann. Mein Leben kann ohne Mann nicht glücklich sein. Und meine Liebe ist nicht lebenswert, ohne den Truthahn, der mich daran erinnert, wie schlimm die Zeiten ohne Liebe sein können. Jedenfalls kann ich auf diese Weise jeden Abend von neuem entscheiden, wen ich unter meine Bettdecke nehme. Tja so ist das, wenn mein Leben glücklich ist.

Ich lag also den ganzen Tag gelähmt im Bett und schaute gedankenlos dem Regen zu, der nicht nachliess. Was mich beunruhigte war, dass ich keinen Drang verspürte, etwas zu lesen oder zu telefonieren. Ich wartete und fühlte mich wie die Spinne, ohne das geringste Verlangen nach irgendeiner Abwechslung. Mein Rücken fühlte sich nach sechs Stunden liegen auch schon ein klein wenig wie ein Panzer an, an dem meine trägen Arme und Beine wie an dünnen Seidenfädchen hingen. Dann fiel mir ein, dass Spinnen die Fäden, mit denen sie ihr Netz bauen. auskotzen. Interessante Perspektive. Aber ich dachte lieber nicht weiter darüber nach.

Noch viel interessanter fand ich aber den Gedanken, dass Spinnen ihre Beute zuerst lähmen und dann ein Gift in sie einspritzen, welches den Körper der Beute zersetzt. Dann saugt die Spinne das vorverdaute Opfer aus und übrig bleibt nur die Hülle. Die leere Hülle, die erschütternd geisterhaft und substanzlos an einem der kaum sichtbaren Fäden des Netzes im Wind hin und her schwankt. Die Spinne verdaut also nicht in ihrem eigenen Magen, sondern sie hat den Verdauungsprozess sozusagen ausgelagert. Das scheint mir eine äusserst elegante Angelegenheit, die bereits zersetzten Opfer durch einen Strohhalm in sich einzusaugen und zu spüren wie der eigene Bauch immer dicker wird. Ha! Prost Mahlzeit.

Ich hatte aber keinen Hunger, während ich regungslos dalag. Es war Sonntag und es regnete und es gab eh nichts zu essen in meiner Wohnung.
Das einzige, was ich mir wünschte war etwas Musik. Aber ich war nicht in der Lage aufzustehen und stellte mir stattdessen lieber vor, wie das ist, wenn ein Spinnenmännchen sich an das Netz des Spinnenweibchens wagt um sie mit seinem Sound zu verführen. Eine riskante Sache in jedem Fall, denn die stürmischen Liebhaber riskieren dabei ihr Leben. Aber wie Blixa Bargeld es formulierte als er noch jung war und ihm die grossen Würfe noch gelangen: „Keine Schönheit, ohne Gefahr.“

Haben Sie, werte Leser, schon einmal gesehen, wie schnell die Spinne sich auf eines der süssen kleinen Fluggeschöpfe stürzt, wenn es sich in ihrem Netz verfangen hat? Die Spinne hat aussergewöhnliche sensorische Fähigkeiten. Sie fühlt die kleinste Vibration der Fäden ihres Netzes und weiss anhand der Schwingungen genau, was sich da in ihrem Netz verfangen hat. Die Spinne frisst sie alle, - die Wespen, die Spinnenmännchen, ihre Spinnenschwestern und Kinder und hauptsächlich die Eintagsfliegen.
All dies weiss das Männchen natürlich und verhält sich vorsichtig. Und es ist schlau. Es zupft an den Fäden des Netzes wie an einem Saiteninstrument. Es erzeugt diesen ganz besonderen rhythmischen Klang, diese tiefgreifende erschütternde Vibration, welche das Spinnenweibchen in Trance versetzt. Dennoch enden die meisten Begegnungen dramatisch.

Schlussendlich stehe ich, anders als meine langbeinige Schwester an der Zimmerdecke, doch schnell auf und mache die Musik an. ‚20 Miles’ füllen den Raum mit ihrem Blues. Auch in Louisiana regnet es. Der Mississippi tritt über die Ufer. Judah Bauers Stimme zupft an meiner Bettdecke. Hhhmmmm.