08.06.07

Kontrollieren Sie bitte.

Heute ist ein grosser Tag. Heute kommt mein Lieblingskondukteur vorbei. Ich sehe ihn draussen auf dem Bahnsteig stehen. Ich kann es kaum erwarten. Er wird mir bestimmt wieder in die Augen schauen bevor er mein Billet kontrolliert.
Seit drei Wochen warte ich auf diesen Augenblick. Vor drei Wochen schaute er mir tief in die Augen und kontrollierte mein Billet.

„Bonjour,“ höre ich ihn sagen. Er steht plötzlich vor mir und ich erstarre. Ich wage es nicht, ihm in die Augen zu schauen. Mein Herzschlag jagt wie eine Flipperkugel in meiner Brust herum. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Er wartet. Er legt seinen Arm auf die Sitzlehne. Ich höre seine Uhr ticken, so nah ist seine Hand an meinem Ohr. Er will dein Billet sehen, denke ich. Nimm das Billet hervor und zeige es ihm.
„Oui?“ fragt er nur.
„Votre sourir me tourmente,“ sage ich errötend. Tourmente. Tourmente. Das ist sicher das falsche Wort. Mir fallen immer die falschen Worte ein, in solchen wichtigen Momenten. Ihr Lächeln tourmentiert mich. „En bien ou en mal,“ fragt er lächelnd. Was um Himmels Willen bedeutet tourmente, denke ich und sage ja ja, im guten, nicht im schlechten Sinn. „Ah bon,“ sagt er erstaunlich erleichtert.
Gerettet.
Ich schaue ihn kurz an. Er hat unverschämt helle Augen. Ich bin verloren. Ich erröte und sage: „Je rougis.“ Er geniesst es ausgiebig mich roujir zu sehen. Ich fächere mir mit der Hand etwas Luft zu. Es hilft nicht. Es sieht nur dramatisch aus. Als würde ich gleich in Ohnmacht fallen. Mit glühenden Wangen halte ich ihm mein Abonnement vor die Augen. Er nimmt es mir aus der Hand, dreht es um und steckt es richtig herum wieder zwischen meine Finger. Ich wünschte, ich würde jetzt in Ohnmacht fallen.
Als er geht bin ich erleichtert und enttäuscht zugleich. Ich hasse das, diese gegensätzlichen gleichzeitigen Zustände. Es fühlt sich an wie zwei Kugeln auf einmal im Flipperkasten. Man spielt sie wie besessen und kriegt nichts mehr mit vom Spiel.
Von hinten sehe ich, dass er einen langen, schwarzen geflochtenen Haarzopf hat. Ein Kondukteur mit geflochtenen Haaren. Hellen Augen. Sonnenbrille auf dem Kopf. Ein Ohrring im linken Ohr. Wo gibt es denn so was.
Ich beruhige mich und bleibe noch eine Weile an dem Gedanken hängen, wie er ohne Uniform wohl aussieht. Nicht nackt jetzt. In seiner Freizeithose meine ich. Ist es ein Rocker? Oder eher ein Künstler?
Da taucht er plötzlich wieder vor mir auf. Mein Herz fällt in Ohnmacht. „Excusez-moi“ sagt er während er kurz stehen bleibt und mit dem Finger in seine Richtung zeigt, aber er müsse noch einmal hier entlang gehen. Dabei grinst er. Er grinst und geht entlang.

Ich muss meine Kollegin fragen, was tourmenter bedeutet, denke ich und nehme zwei Tritte auf einmal die Treppe rauf. „Chantal?“ rufe ich während ich die Tür öffne. Chantal ist Französischlehrerin und heisst wirklich so. Wenn man sie ärgern will, spricht man es deutsch aus: Schahnthal. Ich will sie nicht ärgern und rufe: „Chantal, was heisst vous me tourmentez?“
- „Das heisst, dass jemand dir grosse Probleme bereitet.“
- „Probleme welcher Art?“
- „Quälende, bedrängende Probleme.“
- „Kann es auch positiv gemeint sein?“
- „Nein.“
- „Ausgeschlossen? Auch nicht in einem positivmasochistischen Sinn?“
- „Es ist definitiv negativ,“ sagt sie.

1 Kommentar:

  1. Erzählen Sie bitte bei Gelegenheit weiter - wenn es eine Fortsetzung gibt.
    GTaag

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