27.03.07

Über das Vergessen und den Schnee von heute

Ich versuche ihn zu vergessen. So, wie man sich das Rauchen abgewöhnt. Man denkt den ganzen Tag ans Rauchen und freut sich dann, dass man es geschafft hat nicht zu rauchen.
Ich wache morgens auf und mein erster Gedanke ist: Vergiss ihn!
„Aber...“ sagt die Erinnerung.
Vergiss ihn, denke ich, er passt nicht zu dir.
„Aber...“ seufzt die Nostalgie.
Vergiss ihn, sage ich, du warst doch glücklich auch ohne ihn.
„Aber...“ sagt die Lust.
Vergiss ihn! Wahrscheinlich hat er eine Geschlechtskrankheit. Bestimmt macht er ein Theater wegen den Kondomen. Oder seine Ex reitet ihn im Geiste immer noch in die Hölle und er ist zufrieden damit. Vergiss ihn!
„Aber...“ sagt die Lust. Sie gibt nicht so schnell auf.
Ich weiss schon, dir geht es nicht nur ums Ficken, meine Gute, erwidere ich voller Verständnis. Du wirst auch älter. Dir geht es um die warme Nachmittags-Sonne die auf uns scheint, wenn wir danach erschöpft am Boden zwischen den zerwühlten Laken liegen. Doch überleg mal ernsthaft meine Liebe, sage ich ganz vernünftig zu meiner unzufrieden im Zimmer hin und her trabenden Lust: Was ist wenn dir sein Schwanz nicht gefällt, was dann?
„Mir hat noch jeder Schwanz gefallen,“ erwidert die Lust eigensinnig „Und er hat bestimmt den schönsten Schwanz der Welt, wenn du meine Einschätzung hören willst.“
Dann küsst er sicher schlecht! Ach, vergiss ihn einfach! Er passt einfach nicht!
(Stille)
„Aber...“ fällt der Erinnerung plötzlich ein, die sich inzwischen den Einwand ‚Er passt nicht’ nochmals überlegt hat, „deine Nachbarin hat auch einen neuen Freund, der nicht zu ihr passt.“
Gestern Abend hatte sie mich zum Essen eingeladen und ihn mir vorgestellt. Er heisst Guglielmo und spricht Italienisch mit einem Akzent. „So süss,“ sagte meine Nachbarin. „Ich verstehe zwar oft nicht, was er sagt, aber ich höre ihm so gerne zu,“ schwärmte sie, als wären seine Worte wie Puderzucker auf ihr Gehirn gerieselt.
Er sieht aus wie ein Superheld in einem unkolorierten Comic. Seine Aufgabe ist vermutlich, durch seine Makellosigkeit die Welt von allem Bösen zu erlösen. Deshalb wurde er gezeichnet. Seine Gesichtszüge wirken prägnant und konturlos zugleich. Als ob man alles Aufsehen erregende mit einem Make-up-Schwamm weggewischt hätte. Irgendeinen Fehler muss er doch haben, dachte ich mir, und während ich mit ihm redete, wartete ich nur darauf, dass er sich durch eine unkontrollierte Geste als perverser Zahnarzt, feiger Psychotherapeut oder psychotischer Heiratsschwindler entlarvte. Nicht dass mich das jetzt sehr beeindruckt hätte, denn ich habe nie Zahnärzte oder Psychotherapeuten kennen gelernt, die anders gewesen wären. Und etwas Traurigeres als „normale“ Heiratsschwindler gibt es sowieso nicht. Doch es wäre eine willkommene Abwechslung zu dem Geplapper gewesen.
Aber so einfach war das nicht mit diesem durchtrainierten Bauchredner. Er redete und redete und ich sah zu, wie die Silben aus seinem losen Fischmaul perlten ohne ihren Sinn auch nur zu ahnen. Bald merkte ich, wie unwichtig es ihm war, dass ich ihn nicht verstand. Er sah einfach gerne den Zuckerschlösschen zu, die sich vor ihm auftürmten, während er redete.
Ich fragte mich, wo sich die Beiden wohl kennen gelernt haben. Vermutlich im Internet. Er kam bisher in der realen Welt meiner Nachbarin nicht vor. Nun sind sie zusammen. Und das Irreale an der Begegnung schwebt wie ein geheimnisvolles Missverständnis über ihnen.
(Stille)
Weshalb kommt eigentlich kein „Aber...“ mehr?

Es scheint ein sonniger Tag zu werden heute. Auf den Sträuchern vor meinem Fenster liegt noch etwas Schnee. Ich wäre heute so gerne mit ihm Schlitteln gegangen. Nun wird er allmählich aus meinem Sehnen verschwinden wie der Schnee, draussen vor der Stadt auf den Äckern, der langsam in den Furchen zerschmilzt.

4 Kommentare:

  1. Jener, der kürzlich erst im Zug nach Biel eine Rolle spielte, Fräulein Minka?

    AntwortenLöschen
  2. Die neuen Triebe warten schon längst.

    AntwortenLöschen
  3. Manchmal fragt mensch sich schon, wie lang das Leben noch sein wird. Wieviele Chancen zu fühlen, zu leben und nicht zu denken denn noch kommen werden...

    AntwortenLöschen
  4. Ein Text der sich anfühlt wie das Aufkratzen alter Wunden.

    Heute scheint auch ein sonniger Tag zu werden.
    Zum Glück liegt kein Schnee mehr.

    AntwortenLöschen