29.09.06

Der bunte Reigen

Es war neulich auf der Münsterplattform, als ich dem eigens aus Berlin angereisten Herzspezialisten das Geheimnis meiner geschwollenen Zunge zu erklären versuchte.
Vielleicht begann es auch damit, dass einer dieser extrem lockeren, langgliedrigen Frührentner auf dem Bänkchen neben uns eine Zigarette anzündete, deren Rauch überhaupt nicht nach Marlboro roch. Kurz gesagt, plötzlich überkam mich das Gefühl, mich in einer Altersresidenz für afrikanische Diplomatensöhne zu befinden. Allerdings von solchen, die es wider Erwaten nicht auf den Rücksitz einer Mercedes Limousine geschafft hatten.
Das einzige was ihnen bis jetzt gelungen war: dass sie ihre ursprüngliche Hirse stampfende Mutti gegen eine europäische, im sozialen Bereich tätige Mutti ausgetauscht hatten.
Natürlich sah ich auch dieses dutzend bleicher Gymnasium Schüler, die vor lauter Angst vor dem, was sie noch alles erwartete im Leben eng zusammen gequetscht auf einer Bank sassen, und eifrig an den Zigaretten mit dem seltsamen Rauch zogen, bevor sie auf ihren X-large Bikes rechtzeitig zum abendlichen Gurkensalat nach Gurten-Gartenstadt düsten.

Kurz darauf wurde mir etwas schwer im Herzen, als der Spezialist mir erklärte, dass die wirkliche Liebe, also diese grosse, schwärmerische Liebe, auf deren Rückkehr man sehnsüchtig einen ganzen goldenen Herbst lang in einem Pariser Hotelzimmer wartet, nie in Erfüllung geht.

Aber wie auch immer, die etwas unsicher und neugierig hinter ihren Erstgeborenen hertapsenden Alleinerziehenden, welchen man schon von weitem ansah, dass sie sich mit dem Gedanken beschäftigten, ob als Zweites nicht ein Mulattchen ganz hübsch wäre, liessen mich weiter an den Fortbestand der Liebe und solch multi-funktionaler Freizeitparks wie der Münsterplattform glauben.
Möglicherweise sieht der Marlboro-Cowboy das alles etwas anders, aber da Rauchen tödlich ist und nicht mehr glücklich macht, wie wir früher glaubten, sind die Zeiten mit dem Rauchen eh vorbei. Ganz egal, wonach der Rauch riecht.

26.09.06

Und wie fühlen Sie sich?

Es regnet. Die nassen Strassen spiegeln die Bäume der Allee und die Häuser und mich, wie ich laufe, farblos wieder.
Die ganze Welt legt sich mit tiefen, dunklen Schatten auf den glänzenden Asphalt nieder. Wenn ich lange genug nur auf den Boden schaue, tauche ich in diesen schwarz-weiss Film ein. Es ist dramatisch und spannend. Und einsam. Und die Sehnsucht nach Farben und Licht ist gross.
Dann die Ernüchterung, wenn ich hochschaue, und die Welt wieder unerträglich bunt und hell ist.

23.09.06

Die Einsamkeit eines sich drehenden Planeten oder damals, als Jungs mich umschweiften wie Kometen.

Apropos rudern fällt mir ein, dass ich eigentlich im Sommer einen Text über das Gummibootfahren auf der Aare schreiben wollte. Die rund 30 Kilometer von Thun nach Bern. Ja, wie klasse das ist, wollte ich schreiben.
Über das Gummiboot, das vor sich hin treibt und wie ein einsamer Planet langsam um sich selber kreist.
Und wie die Welt sich in Zeitlupe um mich dreht, und ich vor mich hin schaue ans Ufer, in den Himmel, ans andere Ufer.
Und dass ich ab und zu ins Wasser springe und eine Weile neben dem Boot schwimme, bis mir zu kalt wird. Dann ganz behutsam ins Boot zurücksteige um möglichst wenig Wasser mit ins Boot zu nehmen.
Und wie ich mich ganz dem Fliessen und Schaukeln und Drehen hingebe, und dass die Hingabe und das Gefühl von Schweben mich erregen.
Und ich mir vorstelle, wie entzückend es wäre im Gummiboot geküsst zu werden.
Und wie der Himmel sich plötzlich bewölkt, und die durchsichtig glitzernden Wellen auf einmal dicht und petrolfarben werden. Unheimlich. Ja genau, diese gefährliche Schönheit des tiefdunklen Wassers unter dem Petrolhimmel wollte ich beschreiben.
Und wie ich dann pinkeln muss, aber nicht mehr ins Wasser springen will, weil es zu kalt geworden ist. Und ich dann mit dem Hintern so weit wie möglich über den Rand hinaus rutsche und ihn leicht anhebe, mich seitlich am Bootsrand festhaltend. Und das Ufer dort Gott sei Dank menschenleer ist, und ich unerwartet beeindruckt von meiner erstklassigen Pinkelshow und gleichsam erleichtert bin, dass mich niemand beobachtet.
Zum Schluss wollte ich schreiben, wie ich mich langsam der Stadt nähere, und der Himmel wieder auf hellt. Und wie am Ufer nun vereinzelt Leute sitzen, die ein Feuer oder Yoga machen.
Und ich das Boot in die Mitte des Flusses rudere, weil eine Brücke auftaucht und ich nicht auf die Pfeiler zutreiben will. Und einige Jungs auf dem Brückengeländer bereit zum Springen stehen und mir zuwinken.
Und dann, als ich zurückschaue, sie wie Kometen von der Brücke mir hinterher springen.

Aber nun ist der Sommer vorbei. Und gute Geschichten brauchen manchmal viel Zeit.

22.09.06

Protokoll

Heute Morgen bin ich mit einem Witz aufgewacht.
Ein Witz, der bitte sehr mit freundlich bernerischer Langsamkeit gelesen werden soll:
Zwei Berner sitzen im Ruderboot und rudern.
Sagt der eine: „Wiehnacht (Weihnachten) isch schön!“
Sie rudern weiter, nicken stumm, rudern, und rudern.
Sagt der andere: „Gschlechtsverkehr isch ou (auch) schön!“
Wieder nicken sie stumm, und rudern und rudern.
Nach einer Weile sagt der erste: „Ja, aber Wiehnacht isch öfter!“

21.09.06

Glück

Aufgewacht mit einer berauschenden Euphorie. Diesen tranceartigen, flüchtigen Zustand so lange wie möglich hinauszuzögern versucht.
Es ging aber nicht. Das Glück verdunstete einfach.

17.09.06

Noch eine Verschwendung

Heute Morgen ist mir beim Aufwachen eingefallen, warum das eine so delikate Sache ist, mit den Kommentaren bei mir.
Was ich in meinem Blog schreibe ist sehr persönlich und damit mache ich mich auch verletzlich. Mein Blog ist wie eine Wohnung mit offenen Türen. Die Leute können direkt ins Schlafzimmer treten und sich zu mir ans Bett setzen. Bei mir gibt es immer Kaffe und Kuchen mit Sahne, alle machen es sich gemütlich, das ist schön. Manche bringen selber feine Torten mit, oder Blumen, die sie mir auf das Nachttischchen stellen, das schätze ich sehr. Und andere erzählen eine Geschichte, das liebe ich. Aber wenn alle weg sind, dann ist mein Bett voller Kuchenkrümel und Bierdosen stehen rum, und die Wände sind versprayt, und meine Bettwäsche ist schmutzig, weil sich einige mit den Schuhen ins Bett gesetzt haben.
Und das ist ärgerlich.

Die Sache ist die, dass ich die Sprayereien ja einfach wegwischen könnte, wenn sie mir nicht passen.
Aber einfacher war es für mich, die Türe zu schliessen, und die Leute müssen nun die Blumen beim Portier abgeben und die Pralinen auch. Der Vorteil ist: Ich kann die ganz alleine essen.
Mit anderen Worten:
Ich habe ganz viele nette Mails bekommen und weiss nun auch wie man Impressen und Kategorien macht, und ich danke allen sehr.

Heute Morgen hat eine Bloggerin eine de luxe Torte beim Portier abgegeben für alle.
Der Nachteil ist: Nun muss ich diese Torte alleine essen. Das schaffe ich gar nicht. Das ist auch Verschwendung!
Ich überlege mir, ob ich das mit den Kommentaren wieder rückgängig machen soll.

16.09.06

Reklamation

Aufgewacht mit dem Gedanken, dass eine so begehrenswerte Frau wie ich alleine im Bett schlafen zu lassen eine Verschwendung ist.

15.09.06

Der tröstliche Gedanke beim Aufwachen heute

Protokoll:
Wenn ich ein Mann wäre, hätte ich vermutlich eine Morgenlatte.
Ich hätte gerne eine Morgenlatte. Wenn ich mir das so überlege.
Es hätte beruhigende Wirkung auf mich.



Der Gedanke erinnert mich irgendwie an einen Comics, aber ich weiss nicht welchen. Meine Neugierde treibt mich aus dem Bett. Schön eigentlich, wenn man sich von Bildern im Kopf leiten lassen kann. Der Luxus, Zeit zu haben.
Ich gehe meine Comics durch und bleibe kurz bei meinem Helden Corto Maltese stehen. Hach, wie gerne würde ich mich nun mit ihm auf eine kleine Abenteuerreise begeben. Aber nein, ich bin meinen Bildern auf der Spur und gehe weiter, lasse mich jetzt auch nicht auf eine Agentenjagd mit Max Friedmann ein (Giardino) und nicht auf eine heimliche Affäre mit dem Vicomte (Ferrandez), was sehr verlockend wäre.
Das schöne an Comics ist, dass sie wie eigene Erlebnisse in Erinnerung bleiben. Anders als Bücher oder Filme eben.
Da! Die "Dirty Plotte" Bände (1991 - 1998) der Kanadierin Julie Doucet. Das war es, was ich suchte.
Sehen Sie?

14.09.06

Es reicht

Ich habe keine Lust mehr, mir den Quatsch in den Kommentaren anzuhören*.
Ich freue mich natürlich nach wie vor, wenn Sie Anmerkungen oder Hinweise zu meinen Texten haben. Oder wenn Korrekturen angebracht werden müssten. Dafür bin ich immer sehr dankbar. Schreiben Sie mir einfach eine Mail.
Sie können mir auch schreiben, wie ich in meinem Blog ein Impressum einrichten kann oder - was ich ja schon lange möchte, sind Rubriken – also wie man Rubriken aufstellt.
Sie können mich auch zum Essen einladen.
Schreiben Sie was Sie wollen**, aber bemühen Sie sich nicht mehr um schlaue Kommentare oder gute Ratschläge.


* schlauer Kommentar 1
"anhören"?



**schlauer Kommentar 2
"wollen"? wie jetzt.

13.09.06

Vive la pensée polyphone

Mein erster Gedanke beim Aufwachen ist immer eine kleine Erleuchtung. Das ist weil der Verstand noch schläfrig ist. Wenn der Verstand schon wach wäre, würde er den Gedanken aufhalten und prüfen und vermutlich für komplett banal befinden.
Aber der erste Gedanke schafft es, sich unbemerkt von der Traumwelt in das Bewusstsein zu schleichen. Er ist voller Gefühle und Erinnerungen und Farben und Klänge.
Er ist gleichzeitig Erinnerung und Wunsch. Er ist hinreissend, verblüffend. Er lässt alle Ausdehnungsrichtungen zu. Der genialste und der vollkommenste Einfall überhaupt, wie mir jeweils scheint, weil er stimmig ist. Er klingt auch mehrstimmig.
Aber sobald ich den Gedanken aufschreiben will, verstummt er augenblicklich. Der Verstand wacht auf, stellt diesen scheinbar undurchdachten hochstaplerischen Gedanken und verhaftet ihn. Führt ihn ab. So ungefähr.
Was ich dann aufschreibe ist nur noch die Protokollversion des Verstandes. Das Denken des Verstandes ist leider einstimmig und eindimensional.

12.09.06

Die Suche nach der grossen Liebe

Die Lösung ist nie das Nahe liegende.
Das Unangenehme, das, was undenkbar oder schwierig ist, das ist meistens die Lösung.
Das Nahe liegende ist meistens das Attraktivste. Das, was man sich wünscht und denkt, dass es gut für einen sei. Das scheinbar Passende.
Der Mensch ist aber zutiefst vernarrt in das Destruktive. Das, was ihn eigentlich zerstört.
Und das Zweitattraktivste wäre das Gesündere für ihn.

Aufgewacht um fünf

Jemand leckte mich wach. Ein mir völlig unbekannter Mann. Aber es war nur ein Traum.
Das blöde war, dass ich nun wach war und der fremde Mann nicht weitermachte.

10.09.06

Immer noch Berlin

Minka Winterberg wäre auch ein hübscher Name für mich, denke ich, während ich über den (richtig:) Winterfeldtmarkt schlendere.

Udo Jürgens auf dem Monitor in der U-Bahn. Er schüttelt seinen Fans von der Bühne herab die Hände. Hinter ihm steht ein weisser Sarg mit einem Blumengesteck. Ach nein. Es ist sein Flügel.

Ein junger Russe lächelt mich im Bus an. Ich kann ihn nicht anders beschreiben als - athletisch.

Er schlenkert mit dem Schwanz und glänzt mit geistiger Brillanz.

Kastanienallee. "Es ist Liebe" steht auf einem T-Shirt einer Frau. Es ist eigentlich die beste Antwort auf alle ungefragten Fragen.
Überhaupt, die weltweit originellsten Namen für Geschäfte und Cafés hier.

Postkarten. Eine Frau lacht laut und nimmt eine Postkarte aus dem Ständer. Sie geht damit in das Geschäft rein. Ich drehe den Ständer herum, um die lustige Karte zu sehen. "Du musst freundlich sein, wenn du ficken willst", steht auf der Karte. Während ich überlege, warum die Frau das wohl so gut fand, fällt mir ein, dass es ein paar ganz freundliche Menschen in Berlin gibt.
Im grossen Ganzen haben die Menschen aber eine eher unfreundliche Art hier. Als sei es Ausdruck von Dummheit, freundlich zu sein.


Horst oder Heinz Minki in der Schlesischen Strasse, zu dem ich wegen dem Minki reingehe. Ein Ort, der sich vorzüglich zum einsamen Verweilen an einem traurigen, verregneten Sonntag eignet, weil man zum Trost Brian Eno zu hören bekommt.

Das Anhalt mit dem exzellenten! Koch erinnert mich an ein Modellbauspiel in meiner Kindheit. Tankstelle spielen mit allem Drum und Dran.



Der wundervolle Augenblick, als er mir ins Ohr flüstert was er sieht und mein Blick seinen Worten folgend auf einmal begreift.

06.09.06

Berlin

Lied der Kanalpenner

Der Kanal hat Dampfer und Ladekähne.
Der Kanal hat Fischkähne auf seinem Rücken.
Der Kanal hat eine Wasserleiche im Herzen.
Das Herz ist das Schauhaus.
Der Kanal hat seinen Schuster geschluckt.
Der Schuster macht Schuhe für einen großen Fisch.
von Günter Bruno Fuchs.

Ich wohne bei Freunden am Landwehrkanal in Berlin. Das ist schön, weil ich vor 20 Jahren zum erstenmal vom Landwehrkanal in den wundersamen Erzählungen von G.B.Fuchs las, und mir damals überlegte, warum der Kanal Landwehr heisst. Vermutlich wegen der Feuerwehr, dachte ich.

Ich gehe am Landwehrkanal entlang, durch den Görlitzerpark, trinke im Hannibal einen Kaffee und weiter in die Oranienstrasse. Bei der Hausnummer 28 bleibe ich stehen. Hier muss doch diese Hinterhofgalerie "zinke" sein, die G.B.Fuchs mit seinem Verleger V.O. Stomps 1959 gegründet hatte. Ich hatte das diffus in Erinnerung. In der Galerie wurden Ausstellungen und Autorenlesungen veranstaltet. Aber die Tür zum Hinterhof ist abgeschlossen.
Ich gehe in das Antiquariat nebenan, aber der Buchhändler weiss auch nichts von einer Galerie im Hinterhof.
"Ich hatte einmal das Buch "zinke". Wenn Sie möchten, suche ich es." Er ist sehr freundlich. Ich bin entzückt.
"Oh ja, gerne."
Er findet das Buch in einer grossen Bücherkiste ganz unten. "Glück gehabt" sagt er, "die sind fertig für den Versand". Wir blättern gemeinsam in dem alten Ausstellungskatalog.
Ich stelle mir das Treiben zu der Zeit bohemenhaft vor. Lesungen und Diskussionen mit viel Zigarettenqualm und Kartoffelschnaps. Künstler und Autoren, die mit Taschenmachern und Textil-Praktikanten etwas für die Arbeiterbewegung tun.
Wir entdecken auf einem beigelegten und gefalteten Zeitungsartikel von 1959, dass das "zinke" tatsächlich im Hinterhof an der Oranienstrasse war, es war jedoch die Hausnummer 27.
Der Buchhändler strahlt. "Es ist immer so, dass die, welche mitten drin stehen gar nicht wissen, dass sie mitten drin sind." sagt er.
Er schliesst mir die Tür zum Hinterhof auf und ich kann das ganze in Ruhe inspizieren.
Da! An der Wand hängt eine kleine Gedenktafel.

Diese für Sie möglicherweise völlig unspektakuläre und unbedeutende Entdeckung ist für mich wie ein kleines aber bedeutsames Geschenk, das über Jahre in diffuses Wissen eingepackt war. Ich habe es nun mit Stolz ausgepackt.

Ich gehe weiter zum Hermannplatz und staune sehr. Das schöne an fremden Städten ist zuweilen das Gefühl wie auf einem fremden Planeten zu gehen, als sei die Stadt auf einer anderen Welt. Das unheimliche an fremden Städten ist aber das Wissen, dass ich in genau diesem Moment ein Teil der Stadt bin, also Teil unserer Welt.

Ich esse Süssigkeiten an jeder Ecke und fühle mich wie im Zuckerhimmel.

Am Abend gehe ich zu den Surfpoeten. Im Mudd Club wird nicht mehr geraucht. Alles wird gut.