03.02.11

Alors on danse

Ich war zehn Jahre nicht mehr in einer Disco. Meine Arbeitskollegin Leonie überredete mich, es wieder einmal zu tun. Tanzen. Wir verabredeten uns um neun am Bahnhof. Sie rief an: "Wo bist du, Minka, ich warte hier auf dich." "Ach", seufzte ich, "ich liege schon im Bett. Ich schaffe es nicht mehr raus heute." Eine halbe Stunde später stand sie vor meiner Haustür. Sie gibt nicht so schnell auf.
Sie schleppte mich auf eine Ü40 Tanznacht. Überwiegend Frauen waren da. Vereinzelte Männer. Leonie schob mich direkt auf die Tanzfläche. Mir fiel ein, dass ich gerne tanzte. Aber Discos nie ausstehen konnte.
Leonie stellte mir Paul vor. Paul hatte bereits sechs Frauen angetanzt, mit denen er nun gleichzeitig tanzte. Er wiegte sich mit der einen, schwang seine Hüfte an der anderen, schmiegte sich an die dritte. Die Frauen fühlten sich begehrt und schön. Und sie tanzten auch so. Paul war jedes Wochenende hier. "Ich tanze für mein Leben gern", erzählte er mir. "Beim Tanzen wird jeder einzelne Muskel, jede Faser im Körper gleichzeitig angeregt. Tanzen ist gesund. Tanzen ist Leben", sagte er und es klang wie eine einfache Lösung. Tanzen ist Leben. Ich überlegte, was Leben für mich war und kam nicht gleich drauf. Ich fühlte mich schon wieder so kompliziert. Denken ist Leben. Tanzen und Nachdenken ging nicht.
Ich tanzte mit Leonie. Wir tanzten und lächelten uns an. Es ist wie früher, dachte ich, nur dass alle um uns herum zwanzig Jahre älter geworden sind. Die Frauen wurden inzwischen von ihren Männern verlassen, hatten sich wieder hübsch gemacht und ertanzten sich ein neues Leben. Ein Mann fand mich interessant, oder vielleicht auch sexy, jedenfalls guckte er immer wieder. Man spürt Blicke beim Tanzen so gut. Unerhörtes schwingt mit den Blicken. Die Schwingung spürt man. Alles ist Schwingung. Leben ist Schwingung, könnte ich jetzt auch so locker sagen. Er sah nett aus. Vermutlich hatte er eine geschiedene Frau, zwei Jungs, die er an Samstagen zum Fussball Turnier fuhr, war selber ein Marathonläufer, Lehrer an der Berufsschule oder Elektriker. Die Musik wechselte. "Sssslow", sagte der DJ. Sofort leerte sich die Tanzfläche und einige Paare fanden sich zusammen, drückten sich aneinander, wiegten sich. Ich zog Leonie an die Bar. Der Marathonmann verlor mich nicht aus den Augen. Sein Herzklopfen schwang bis zu mir. Der Gedanke, dass er jetzt gerne mit mir tanzen, genau genommen meinen Körper an sich drücken, meine Hüften spüren, meinen Duft riechen würde, gefiel mir nicht.
"Und", fragte Leonie, "gefällt dir einer?"
"Nein. Keiner. Und dir?"
"Es gibt schon ein paar nette Männer hier", sagte sie.
"Aber welche gefallen dir?" fragte ich nach.
"Naja, ein paar sind wirklich nett", wiederholte sie.
"Ich wüsste gern, auf was für Männer du stehst. Nicht ob sie nett sind."
"Mit einigen hatte ich was, die waren nett", sagte sie etwas leise.
"Was...? Ach so. Oh. Mit welchen?"
"Das sage ich jetzt nicht."
"Ach komm! Bitte."
"Nein, das ist mir peinlich."
"Mit Paul?"
Der Marathonmann kam direkt auf uns zu. Er sprach mich an: "Darf ich dich um einen Tanz bitten?" Der Mut, mich zu fragen, verlieh ihm ein ekstatisches Strahlen. In dem Moment wechselte die Musik. Hektische Beats spickten wie Pingpong Bälle durch den Tanzsaal: Alors on danse. Er sackte zusammen. Winkte ab. Es war zu spät.