30.10.09

Mit jedem erloschenen Stern wird das Weltall etwas dunkler

Sehnsucht erlischt manchmal einfach, wie ein leuchtender Himmelskörper, der unwillkürlich verglüht, wenn der Brennstoff ausgegangen ist.

29.10.09

Gelungen!

Glutenfreie Kindergeburtstagstorte, ohne Eier, ohne Butter, ohne Zucker, ohne Sahne, ohne Nüsse, ohne Schokolade. Mit Apfelmus-Schafmilchquark-Füllung.

27.10.09

Der geheime Wunsch beim Kerzenausblasen.

26.10.09

Özlem

Özlems Lieblingswort ist Frühstück. Wenn sie in Fahrt kommt, sagt sie sogar Fürühstück. Es gibt einige auserwählte Wörter, bei denen sie die Reihenfolge der Silben nie hinkriegt. Verhareitet oder kontrensieren zum Beispiel. Sie kann sich nicht konzentrieren, weil Ali neben ihr sitzt und immer leise vor sich hinmurmelt. Einmal patschte sie mit der flachen Hand auf Alis Hinterkopf, damit er Ruhe gibt. Das hätte sie besser unterlassen. Ali schwieg zuerst tatsächlich ein paar Sekunden und schaute nur konsterniert. Dann sprang er auf wie ein Schachtelteufel und schimpfte los, schlug sich vor Wut ein paar Mal mit weit ausholender Hand auf die Brust, zeigte auf Özlem und haute sich, uns das Unrecht demonstrierend, gleich noch ein Mal selbst auf den Hinterkopf.
Ich habe Teweldebaran zwischen sie gesetzt. Er lässt sich nicht so leicht von Gemurmel beirren.

25.10.09

Schwesterntag


Zeitumstellung, Sonntagsbrunch, Kindheitserinnerungen, Wasserrutschbahnen, Grünteeseife, Masseurhände, Sprudelbad, Wohlfühltag, Orgasmusgeschichten, Lammbraten, Rotweingläser, Schwesternglück.

23.10.09

Apfelstrudel mit warmer Vanillesauce

Es gibt keinen anderen Teig, der sich so schön geschmeidig und seidig glatt anfühlt.

Und immer wieder seine Ruhe verlangt, entspannen will, innere Elastizität gewinnen muss, um seine delikate Mission zu erfüllen.



Das Schönste aber ist, wie er sich, wenn er flach über meinen beiden Handrücken liegt, mit gleichmässig behutsamen Bewegungen zu einer hauchdünnen Membran ausziehen lässt.

22.10.09

Heloiza

Heloiza bekommt eigentlich alles, was sie will. Sie ist jung, hübsch und hat ihre Kindheit in Porto Alegre verbracht. Ihr Körper übernimmt das Sprechen. Ihre Rede, also alles an ihr, ist weich, anschmiegend und abrundend. Die deutschen Wörter sind kompliziert wie Millionenbeträge, darum rundet sie sie pauschal und grosszügig ab. Immer, wenn sie sechs sagt, kichert sie. Ihre Lieblingszahl ist sexundsexyg.

21.10.09

Harutyun

Harutyun liest Sätze nur andeutungsweise. Er liest ein, zwei Worte und denkt sich den Rest aus. Ich vermutete zuerst, dass er eine Leseschwäche hat. Aber das ist es nicht. Er sieht nicht gut. Um die Buchstaben zu erkennen, muss er sie zwei Zentimeter vor die Augen halten. Darum kneift er wie ein geblendeter Maulwurf die Augen zusammen und senkt, aber auch nur wenn es unbedingt sein muss, die Stirn bis auf den Tisch und legt die Nase ins Buch. Er bekommt bald eine neue Brille.

19.10.09

Schwesterliche Beratung

Es war so kalt, dass ich beinahe vom Fahrrad fiel. Ich mag Kälte. Aber noch vor genau einer Woche war ich in der Aare baden. Im Bikini. Das muss man sich mal vorstellen. Ich meine mehr so grundsätzlich vorstellen, nicht bildlich. Ich mag Kälteeinbrüche wirklich. Aber sie brach diesmal sehr an den Ohren und Händen ein. Am Bahnhof stellte ich das Rad ab, entschlossen, von nun an die Strassenbahn zur Arbeit nehmen und mir ein Abonnement zu kaufen. Am Schalter standen aber so viele Leute an, dass ich mich kurzerhand umentschied das Geld in eine Wollmütze und Handschuhe zu investieren.
Im Moment gibt es recht hübsche Mützen, mit Pompons oben drauf oder seitlich geflochtenen Bändern, die wie Haarzöpfe aussehen. Ich probierte alle Mützen im Laden an und fragte eine junge Frau, die gerade einen Mantel probierte, welche die schönste sei. Sie beobachtete meine Verwandlungen mit schwesterlicher Geduld und sagte: "Die Helle ist die beste." Ohne Pompon. Und ohne Zöpfe. Das fand ich auch. Dann wollte sie meine Meinung zu zwei Mänteln wissen. Ich sagte mit schwesterlicher Ehrlichkeit, dass leider keiner der beiden ihr stehe.

17.10.09

Angelez

Auch Angelez hat eine Narbe am Hals. Sie ist als Kind von einem Hund gebissen worden. Der Hund sprang ihr direkt an den Nacken. Sie ist eine kleine, dünnbeinige, 45 jährige Mexikanerin. Sie trägt jeden Tag Cowboystiefel und einen Jeans-Minirock und viel Schmuck an den Ohren. Ich denke bei ihr immer an Kirmes, Softeis, Zuckerwatte und Revolverschüsse. Sie spricht lauthals und spärlich Worte, als wären es Plüschtiere, die sie am Schiessbudenstand den Gewinnern aushändigt. Sie formt ihre Lippen zu einem Kussmund, wenn sie fotografiert wird. Die Frauen fotografieren ständig mit ihren Handys. Sie strömen für jedes Bild wie Quecksilberkügelchen zusammen, halten die Köpfe aneinander und verschmelzen zu einem gemeinsamen Fotolächeln.

15.10.09

Amalia

Amalia ist 18, hat schwarze, lange Haare, die sie mit dem Bügeleisen glättet. Sie legt die nassen Haare auf das Bügelbrett, ein Küchentuch drauf und ihre Schwester bügelt drüber. "Warum nimmst du kein Glätteisen," fragt Veronika. Veronika ist Ukrainerin und Fotomodell. Sie ist spindeldünn, hellhäutig und durchscheinend wie ein Phantom. "Meine Haare sind zu dick," antwortet Amalia, "das schafft ein Streckeisen nicht." Einmal hatte die Schwester keine Lust zu bügeln und Amalia versuchte es selber. Dabei geriet sie mit dem heissen Bügeleisen an den Hals. Sie zeigt uns die Brandnarbe.

Ali

Ali kämpft mit Wörtern. Er vergisst oder verwechselt sie, redet aber pausenlos, weil er gewissenhaft jedes meiner Worte ein paar Mal nachspricht. Er hat dunkelgrüne Augen und ist still und leise in Amalia, die Armenierin verliebt.

14.10.09

Teweldebaran

Teweldebaran ist Eritreer und lernt mit elf anderen Menschen in einem Sprachkurs Deutsch. Teweldebaran wird T’wld’brn ausgesprochen. Er spricht auch Deutsch gänzlich vokallos, dafür rollt er ausgiebig das r. Er ist am 1. Januar 1988 geboren, wie drei andere Eritreer in der Klasse auch, was keineswegs ein seltener Zufall ist, sondern auf einer geschätzten und ordnungsmässigen Festlegung eines Fremdenpolizeibeamten beruht. Err’st von B’rruf Soldat. Er ist desertiert und muss sich erst an sein neues, adrenalinarmes Leben gewöhnen. Er kann töten und überleben. Jetzt kämpft er mit der Langeweile und den Vokalen.

13.10.09

Seine Pantoffeln

sein Teeglas, seine Bücher, seine Weltkarte, seine russischen, filterlosen Zigaretten, sein Sliwowitz. Es ist eine Zeremonie der Sentimentalität, die Gebrauchsgegenstände eines Verstorbenen wegzuräumen.
Mein Mitbewohner hat ein paar Flaschen vorzüglichen Wein im Zimmer hinterlassen, die ich allmählich trinke. Heute einen süssen Johanniberger aus dem Wallis. Ich teile seine Vorliebe für süsse, schwere Weissweine. Daneben koche ich Basmati Reis mit Korinthen und Gänsebrüstchen mit Beifuss. Beifuss ist so ein Kraut, das im Kräutergarten wächst, aber nie geerntet wird. Es passt zu fettigen Gerichten, klärt mich meine Mutter am Telefon auf, zum Beispiel Gänsebraten. Als ich meine Sauce probiere, schmeckt sie bitter und nach Brechmittel. Ich rette meine Gänsebrust mit viel Pfeffer, Koriander und einer libanesischen Gewürzmischung, die mein Mitbewohner hinterlassen hat.

12.10.09

Der Sommer ist vorbei

Inzwischen ist mein Mitbewohner gestorben. Er hatte einen Aortariss. Er legte sich früh hin, weil er sich nicht so gut fühlte. Dann schlief er ein. So starb er.
Natürlich ist er zu jung gestorben und ich bin traurig, dass er gegangen ist. Aber so einen Tod kann man sich eigentlich nur wünschen. Ich hätte nichts dagegen zu sterben, bevor ich alt bin. Bis dahin lebe ich mein Leben dreifach, als hätte ich nur dieses eine.
Mein Mitbewohner hatte viele Verehrerinnen. Dutzende von Frauen weinten an seinem Grab. Die Beerdigung fand in einem kleinen Bergdorf im Wallis statt, das man nur mit einer Luftseilbahn erreicht. Er war ein Einzelgänger und das wirkt ziemlich anziehend auf Frauen, die sich immer nur in Männer verlieben, die man nicht kriegen kann. Aber ich kann die Frauen schon verstehen. Er war begabt, sprach acht Sprachen fliessend. Zudem konnte er nächtelang Geschichten erzählen und war ein guter Tierstimmenimitator.